Waldeckische Landeszeitung | KORBACH | 08.08.2019
ZUR PERSON:
Julia Boving kommt aus Lengefeld.
Die 25-jährige hat Politikwissenschaft und Soziologie in Würzburg studiert und jetzt ihren Bachelor gemacht. Ab Oktober macht sie den Master in Soziologie und Sozialforschung in Köln. Arbeiten möchte sie in der Forschung und sich mit Rechtsextremismus und Autoritarismus beschäftigen. Die Lengefelderin Julia Boving war zweimal für Hilfsorganisationen in Griechenland im Einsatz. Neun Monate kümmerte sie sich um Flüchtlinge, die mit Booten ankamen. VON JULIA RENNER Die Situation der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln hat die 25-jährige Julia Boving hautnah erlebt. Sie war als Freiwillige dort im Einsatz. Am Montag, 12. August, berichtet sie ab 19.30 Uhr in der Korbacher Stadtbücherei von ihren Erlebnissen. Der Eintritt ist frei, Spenden für die Organisation "Offene Arme" werden gern genommen. Im Interview sprachen wir mit ihr über die Arbeit.
Das waren viele Dinge. Schon beim Studium in Würzburg habe ich in der Flüchtlingshilfe gearbeitet. Da bin ich mit vielen faszinierenden Menschen in Kontakt gekommen, die das Schicksal so hart gebeutelt hat, dass ich das nicht richtig mit meinem Realitätsverständnis in Einklang bringen konnte. Nach dem EU-Türkei-Deal kamen die griechischen Inseln mehr ins Bewusstsein. Von Freundinnen hatte ich erfahren, dass es dort sehr an der Zivilbevölkerung hängt und an Nicht-Regierungs-Organisationen. Freiwillige waren rar gesät. Und ich habe mich durch meine Erfahrungen in Würzburg den Menschen dort sehr verbunden gefühlt. Durch mein Studium hatte ich das Privileg, Zeit für die Arbeit zu haben.
Ich glaube, ich war erst mal in einer Art Schockstarre. Ich konnte das gar nicht richtig verstehen, dass Menschen aus der Türkei - die Küste kann man von Chios aus sehen - mit Schlauchbooten kommen.
Genau. Vorher versteht man es, dann fühlt man es. Man sieht die Menschen, schaut ihnen in die Augen, sieht ihre Gefühle und fühlt sie auch. Das lässt einen nicht mehr los.
Beim achtmonatigen Einsatz war ich als Koordinatorin da, hatte auch Verantwortung. Ich habe mich um das Lagerhaus gekümmert, um alle Spenden, die raus gingen oder rein kamen. Immer, wenn Menschen ankamen, haben wir Kleidung rausgegeben. Die ganze Kommunikation, Öffentlichkeitsarbeit, die Administration und die Logistik habe ich übernommen. Gearbeitet haben wir an sechs Tagen die Woche, meist zehn bis zwölf Stunden am Tag. Parallel bin ich auch mit raus gefahren, wenn Flüchtlinge ankamen.
Es war schwierig, sich mal eine Auszeit zu nehmen. Man ist immer im Notfall-Modus, ständig passiert etwas. Ich wusste, dass ich das nicht länger als ein Jahr aushalten könnte. Als ich dort war, habe ich ab und zu telefoniert und mit anderen Freiwilligen vor Ort Kaffee getrunken. Wenn Flüchtlinge ankamen, funktioniert man einfach nur. Auch, wenn schreiende Kinder vor dir stehen, die tropfnass sind. Das versteht man erst später, dann kommen die Bilder und die Gesichter wieder. Dann muss man darüber sprechen, sonst macht es einen kaputt.
Ja, zu vielen Menschen. Ich habe auch jetzt noch Kontakte. Viele Schicksale wachsen einem ans Herz.
Ja, die gab es. Vor allem, wenn Leute fragten, ob ich helfen könnte, Studienvisa für Deutschland zu bekommen. Aber ich konnte nichts machen. Den Menschen dort geht es schlecht, alle sind traumatisiert, aber es gibt dort einfach keine Psychologen. Ich konnte nur zuhören, soweit ich das ausgehalten habe. Aber auch bei mir gibt es Grenzen.
Eigentlich wollte ich nur bis Januar bleiben. Ich hatte vorher schon gehört, wie zermürbend die Arbeit sein kann und wie schnell man ausbrennt. Davor hatte ich auch Angst und deshalb wollte ich zunächst nur drei Monate bleiben. Im Januar konnte ich aber nicht gehen, es hat sich überhaupt nicht richtig angefühlt. Es waren sehr wenige Freiwillige da, ich hätte an niemanden meine Aufgaben abgeben können. Also bin ich noch bis Mai geblieben, bin noch für zwei Monate nach Samos gewechselt.
In Würzburg habe ich immer gearbeitet nebenbei und auch meine Eltern haben mich unterstützt. Beim zweiten Einsatz, als ich als Koordinatorin war, wurde mir eine Unterkunft gestellt und ein Auto. Die Organisationen leben von der Hand in den Mund, von Spenden. Geld können sie nicht bezahlen.
Ich glaube, die Politik muss die Menschen einfach willkommen heißen wollen. Die Botschaft der Inseln, die als Abschreckung installiert wurden, soll sein: Kommt bloß nicht hier her, es ist die Hölle. Es gibt zum Beispiel viel zu wenig Menschen, die von der Regierung angestellt sind, um sich zu kümmern. Ich habe auch das Gefühl, viele möchten es ausblenden. Es wird nicht mehr groß thematisiert. Es gibt keinen politischen Willen, die Flüchtlingssituation zu ändern, und immer noch keine europäische Einigung, wie die Menschen verteilt werden sollen. Wir müssen gegen Gründe für Flucht vorgehen. Es gibt einen großen Zusammenhang zum Klimawandel und Waffenexporten, Fluchtursachen werden hier geschaffen und gefördert.
Ja. Ich weiß aber nicht, ob ich noch einmal auf die Inseln gehen würde. Ich würde nach Bosnien oder Serbien gehen wollen, wo viele Menschen festsitzen. Dort gibt es auch Organisationen, die Menschenrechtsverletzungen dokumentieren.