Quelle: HNA vom 05.10.2013
Im Rahmen der interkulturellen Woche trat der Lyriker Nevfel Cumart im Bürgerhaus auf und traf mit seinen knappen, klar formulierten Gedichten den wunden Punkt beim Leben zwischen zwei Kulturen.
VON ARMIN HENNIG
Korbach. Lebensnähe ist die Stärke in der Lyrik Nevfel Cumarts. Und mit seinem Talent, auch den ernsthaftesten Situationen eine heitere oder ironische Seite abzugewinnen, schenkte er allen Anwesenden einen kurzweiligen Abend mit bezeichnenden Einsichten.
"Fragen Sie ruhig, niemand kann mich aus dem Konzept bringen, ich habe keins", animierte der deutsch-türkische Lyriker schon zu Beginn seiner heiteren Personality-Show mit ernstem Hintergrund die Zuhörer zu Zwischenfragen. Die erste galt dem türkischen Anteil seiner Gedichte. Von 1600 seien gerade mal 20 auf Türkisch, antwortete er freimütig. Die deutsche Sprache sei eindeutig sein Arbeitsmaterial, auch wenn die Bildstärke sicherlich auf seine orientalischen Wurzeln zurückginge.
Sein frühes Gedicht von der Aufgabe des Brückenbauers zWischen den Kulturen, einer Aufgabe. die ihn zu zerreißen drohe, las er auf Deutsch und Türkisch. Die Hintergründe folgten eher Spontan im Verlauf des Abends.
Wir kamen mit Koffern voller Heimweh und Tränen für Jahre“, lautet ein bezeichnender Vers. Am meisten hatte der Mutter der Umzug in die Fremde zugesetzt, sie litt all die Jahre unter psychosomatischen Beschwerden, da ihr vertrautes Umfeld weggebrochen war und aufgrund der traditionellen Rollenverteilung mit der Konzentration auf den häuslichen Bereich auch kein neuer Bekanntenkreis aufgebaut werden konnte.
Kindheit und Jugend waren geprägt von der alltäglichen Reise in die Türkei und zurück, denn die Eltern zeigten das typische Diaspora-Verhalten: Im eigenen Haus sollte alles so sein wie zu Hause - für den jungen Nevfel gleichbedeutend mit dem alltäglichen Spagat, den Eltern daheim alles recht zu machen und bei den Altersgenossen draußen anzukommen.
Außergewöhnlich die schulische Karriere: Cumart war einer von drei Jungen an einem Mädchengymnasium und der erste Abiturient mit Migrationshintergrund in Stade, wo sein Vater bei den VAW als ungelernter Arbeiter das Geld verdiente. "In dieser Phase haben mich meine Eltern . gewähren lassen", lautete seine Antwort auf die Frage, ob sein Bildungsweg nicht zu Spannungen geführt habe. Entsetzte Reaktionen gab es eher seitens der Lehrerschaft, als er anschließend eine Lehre begann, um den Jugendlichen mit Migrationshintergrund deutlich zu machen, dass es sich lohnt sich zu qualifizieren, statt wie die Väter als ungelernte Arbeiter ans Band zu gehen.
"Ich habe mich nicht darum gerissen, Brückenbauer zu sein", bekannte er. "Ich hatte mit 18 ein Magengeschwür von den vielfältigen Belastungen." Neben der Schule betrieb Nevfel Cumart ein intensives interkulturelles Engagement und fungierte bei Prozessen als Dolmetscher, der schon mal einen Gefühlsausbruch zugunsten des Angeklagten umdeuten musste.
Für zusätzlichen Stress sorgte die erste Liebe, eine geheim gehaltene Beziehung, da der Vater des Mädchens "keinen Türkenlump" in seinem Haus haben wollte. Der nächste deutsche Schwiegervater ins spe hegte dagegen die Befürchtung, man wolle ihm seine Tochter mit 14 Kamelen abkaufen.
Dergleichen Vorurteile gehören inzwischen der Vergangenheit an, stattdessen wird er regelmäßig mit einem anderen Phänomen konfrontiert: Sobald seine türkische Herkunft zur Sprache kommt, verfallen seine Gesprächspartner unvermittelt ins rudimentäre Tarzan-Deutsch, würden ihn duzen und lauter sprechen: "Sie können normal mit mir reden", ist seine Antwort auf dieses Verhalten.
Seitdem er eine Frau mit griechischen Wurzeln geheiratet hat, kommt der Dichter eher zu Lesungen in die Heimat seiner Eltern, denn die Urlaubsreisen mit der Familie führen regelmäßig zur Schwiegermutter nach Griechenland. Inzwischen hat sich die nächste Ironie des Alltags eingestellt. Die zwölfjährige Tochter, die gerade ihre Identität als Fränkin findet, hat keine Lust mehr zur alljährlichen Reise zur Oma.
"Es gibt drei Wege in die Mitte der Gesellschaft: erstens Bildung, zweitens Bildung und noch einmal "Bildung", lautete das Fazit seiner persönlichen Erfolgsgeschichte gegen zahlreiche Widerstände. Seit seinen Zeiten als türkischer Ausnahmeabiturient hat sich in schulischer Hinsicht viel getan, die Zahl der Abiturienten mit Migrationshintergrund wächst ständig und gerade bei Unternehmen mit Engagement in der Türkei sind diese gut ausgebildeten Brückenbauer sehr gefragt.
Der Hauptgrund, warum der Abiturienten-Anteil immer noch verhältnismäßig gering ist, liegt bei der Heiratspolitik: Türkische Männer heiraten zu 95 Prozent ein Mädchen aus der Heimat, bei anderen Migranten ist die Quote niedriger, bei Polen z.B. nur 36 Prozent. Kinder mit türkischen Wurzeln haben in den meisten Fällen immer noch einen weiten Weg vor sich, selbst wenn sie nicht oder nicht mehr im selben Ausmaß gegen dieselben Widerstände ankämpfen müssen wie einst
Nevfel Cumart.